Sphärisch oder anamorph? Beides!

Kameraoptiken

„Ich beschäftige mich sehr gerne mit Optiken. [...] Wir hatten sphärische Optiken für den einen Erzählstrang und wir hatten die anamorphen Optiken für die anderen beiden. Und dann war das eben die Idee. Und weil das halt was ist, was man eigentlich nicht sieht, aber irgendwie doch spürt.”

Mariko Minoguchi, Regisseurin von Mein Ende. Dein Anfang.

Quelle: Flimmerkiste - Dein Film & Serienpodcast

Optiken ist ein Begriff, der von Filmemacher*innen oft als Synonym für Objektive verwendet wird. Über die Kameraobjektive, die bei der Erstellung eines Film zum Einsatz kamen, erfahren die Zuschauer*innen meistens sehr wenig. Das hängt mit dem Charakter von Objektiven zusammen, die im Prinzip lediglich das Licht durchlassen, damit es auf den Film oder Sensor fällt. Objektive sind also auf den ersten Blick eine Form von Technik, die man gar nicht wahrnimmt. Aber ganz so einfach ist es nicht, denn die Optiken haben einen entscheidenen Einfluss darauf, wie das Geschehen vor der Kamera abgebildet wird.

Die ersten Kameras bestanden aus einem lichtdichten Kasten mit einem kleinen Loch in der Wand (Camera obscura). Heutige Kameras und Filmkameras nutzen stattdessen Objektive (Optiken). Diese bestehen meist aus einer oder mehreren geschliffenen Glaslinsen, die Licht bündeln und ein Bild erzeugen, ähnlich wie das menschliche Auge. Moderne Objektive sind komplexe Systeme aus mehreren Linsen und bestimmen maßgeblich das Aussehen des Bildes. Häufig werden Objektive bildlich als das „Auge der Kamera“ bezeichnet, das den filmischen Raum definiert.

Objektive: Einteilung nach Brennweite

Auf Grundlage der Brennweite, d. h. dem Abstand der Aufnahmeebene (Film oder digitaler Sensor) von der Hauptebene des Objektivs, lasssen sich drei Grundtypen von Ojektiven unterscheiden: Normalobjektive, Teleobjektive, Weitwinkelobjektive und die extreme Form des Weitwinkels, die Fischaugenobjektive. Alle diese Objektive haben spezifische optische Eigenschaften, die das Bild bezüglich Raum- und Tiefenwahrnehmung, perspektivische Verzerrungen (Verzeichnungen) und Schärfe-/Unschärfeverteilung verändern.

Normalobjektiv Teleobjetiv Weitwinkelobjektiv Fischaugenobjektiv

Alle Beispiele für unterschiedliche Brennweiten aus dem Film Cleo, Regie Eric Schmitt, Deutschland 2019. Mehr zu Cleo im Filmbildungskurs Sek I

Objektive: Einteilung nach Form der Linse

Neben der Einteilung nach der Brennweite gibt es auch eine weitere Einteilung von Objektiven, die sich auf die Form der Linsen bezieht. Bei einem sphärischen Objektiv haben die Linsen eine sphärische Form. Das bedeutet, die Oberfläche dieser Linsen ist gekrümmt wie eine Kugel oder ein Teil davon. Diese Art von Objektiv ist die häufigste und wird in den meisten Kameras verwendet. Ein anamorphes Objektiv basiert nicht auf einer Kugellinse, sondern auf einer Linse mit einer elliptischen oder zylindrischen Form (und ist damit asphärisch). Anamorphe Objektive werden in der Filmproduktion eingesetzt, um ein breiteres Bild auf einem herkömmlichen Film- oder Sensorsystem aufzunehmen. Diese Objektive komprimieren das Bild horizontal, sodass mehr von der Szene auf den Film oder Sensor passt. Später wird das Bild in der Postproduktion entzerrt, um das gewünschte breite Seitenverhältnis zu erzeugen. Aber auch hier gilt: Anamorphe Objektive haben optische Eigenschaften, die das Bild charakteristisch verändern, ihm also einen speziellen Look verleihen.

  1. Woher kommt der Begriff „anamorph” und was bedeutet er?
  2. Das Adjektiv „anamorph” (ausgesprochen [anaˈmɔrf], was sinngemäß „umgestaltet“ bedeutet und aus dem Griechischen stammt) beschreibt einen Zustand, bei dem ein Bild im Vergleich zum Original verzerrt ist. Besonders in der technischen Optik verwendet man auch das Wort „anamorphotisch”, um die verzerrende Wirkung eines optischen Systems zu beschreiben. Die entsprechenden Foto- und Filmobjektive werden daher auch „Anamorphoten” genannt.

  3. Was ist eine anamorphotische Abbildung?
  4. Eine anamorphotische Abbildung ist eine verzerrte Darstellung eines Bildes oder Objekts, die nur aus einem bestimmten Blickwinkel oder mithilfe eines speziellen Spiegels in ihrer normalen Form erkannt werden kann. Diese Technik wird seit Jahrhunderten in der Kunst und später auch im Film verwendet, um besondere visuelle Effekte zu erzielen.

  5. Anfänge in der bildenden Kunst
  6. Die anamorphotische Abbildung wurde bereits im 16. Jahrhundert in der bildenden Kunst eingesetzt. Künstler*innen nutzten diese Technik, um Bilder so zu verzerren, dass sie zunächst unverständlich oder chaotisch wirkten. Erst wenn die Betrachter*innen aus einem bestimmten Winkel schauten oder einen zylindrischen Spiegel benutzten, erkannten sie das ursprüngliche Bild. Solche Werke sollten den Betrachter überraschen und gleichzeitig auf die machtvollen Möglichkeiten der Perspektive hinweisen. Ein berühmtes Beispiel ist das Gemälde „Die Gesandten“ von Hans Holbein dem Jüngeren (1533). In diesem Werk ist ein verzerrter Totenschädel am unteren Rand des Bildes zu sehen, der nur aus einem schrägen Blickwinkel als solcher erkennbar wird. Das Bild war für einen Treppenaufgang vorgesehen, die Betrachter*innen sahen beim Hochgehen zunächst den Totenschädel als Symbol für die Vergänglichkeit irdischen Wohlstands.

     

    Die Gesandten (Hans Holbein der Jüngere), 1533, Originalformat 206 cm × 209 cm, National Gallery London.

  7. Anamorphose im Film
  8. Mit der Erfindung der Fotografie und später des Films fand die anamorphotische Abbildung eine neue Anwendung. Der Übergang zu anamorphotischen Optiken im Hollywood der 1960er Jahre hatte mehrere wirtschaftliche Gründe, die eng mit dem Wettbewerb durch das sich in Privathaushalten immer weiter verbreitende Fernsehen und der Notwendigkeit, das Kino als einzigartiges Medium zu positionieren, verbunden waren: In den 1950er Jahren begann das Fernsehen eine ernsthafte Konkurrenz für das Kino zu werden. Um die Zuschauer*innen ins Kino zu locken und ein unverwechselbares Erlebnis zu bieten, suchten Filmstudios nach Techniken, die das Fernsehen nicht bieten konnte. Anamorphe Optiken ermöglichten es, Bilder ohne Qualitätsverlust auf Standard-Filmmaterial in einem breiten Seitenverhältnis aufzunehmen. Diese Objektive verzerren das Bild beim Filmen horizontal, sodass es gestaucht wird und auf das Filmmaterial passt. Bei der Projektion im Kino wird das Bild dann wieder entzerrt, wodurch ein breites Bild im Kinoformat (Breitbildformat, z. B. CinemaScope) entsteht. Dieses Verfahren erlaubte es Filmemacher*innen, epische, weitläufige Szenen einzufangen, die auf einer herkömmlichen Filmleinwand (oder gar im Fernsehen) nicht so eindrucksvoll wirken würden, was das Kinoerlebnis visuell beeindruckender und immersiver machte. Ein Beispiel dafür ist der Film Lawrence von Arabien (1962), der in einem extrem breiten Format gedreht wurde. Die Verwendung von anamorphotischen Objektiven ermöglichte es dem Regisseur David Lean, die beeindruckenden Wüstenlandschaften in ihrer ganzen Weite darzustellen.

Charakteristiken von sphärischen Objektiven
  1. Insgesamt klares, realistisches Bild (nahe an der Alltagswahrnehmung)
  2. Rundes Bokeh
  3. weniger ausgeprägte runde Lichtreflexe (Lens flares)
  4. eher gleichmäßige Bildverzerrung (in Abhängigkeit von der Brennweite)
  5. gleichmäßige Schärfeverteilung
  6. Tiefenwirkung bei sphärischen Objektiven ist gleichmäßiger und weniger stark ausgeprägt. Die Beziehung zwischen Vorder- und Hintergrund erscheint natürlicher und weniger dramatisch.
  7. Umrisse von Figuren und Objekten im Vordergrund wirken klar abgesetzt vom Hintergrund.
Charakteristiken von anamorphen Objektiven
  1. Cinematic look”: weicher, eher künstlerisches und dramatisches Bild
  2. Elliptisches Bokeh (vertikal gestreckt)
  3. ausgeprägte horizontal gestreckte Lichtreflexe (Lens flares)
  4. Spezifische Verzerrungen in der Horizontalen
  5. Bild kann in der Horizontalen unschärfer sein als in der Vertikalen (ungleichmäßige Schärfeverteilung)
  6. Besondere Tiefenwirkung, insbesondere in der Horizontalen. Das Bild kann „räumlicher“ oder „tiefer“ wirken.
  7. Umrisse von Figuren und Objekten im Vordergrund wirken weniger klar abgesetzt vom Hintergrund.

Objektive gehören zum Werkzeugkasten von Filmemacher*innen und werden gemäß der gewünschten Abbildungseigenschaften eingesetzt. Häufig gilt es z.B. Lichtfreflexe (Lens flares) zu vermeiden aber in einigen Filmen sind diese auch als gezieltes Ausdrucksmittel erwümscht (z.B. im Genre Science-Fiction). Manchmal sollen Filmbilder möglichst realistisch und scharf aussehen, ein anderes Mal ist eher ein dramatischer Look und ein eher weiches Bild mit ausgeprägten Unschärfebereichen gewünscht. Die meisten Filme bleiben bei einem Objektivtyp (sphärisch oder anamorph), um ein kohärentes Bild zu erhalten. Der Wechsel von Objektiven mit unterschiedlichen Brennweiten ist meist kein großer technischer, logistischer und finanzieller Aufwand. Entscheiden sich Filmemacher*innen jedoch für den Aufwand, einen Film mit sphärischen und anamorphen Objektiven zu drehen, so ist damit fast immer eine bestimmte visuell-erzählerische Strategie verbunden, wie z.B. über die unterschiedlichen Optiken etwas abzugrenzen oder eine Entwicklung zu zeigen.

Wenn du dein Wissen über Technik und Wirkungsweise von sphärischen und anamorphen Objektiven anhand von zahlreichen Beispielen aus der neueren Filmgeschichte vertiefen möchtest, empfehlen wir dir dieses YouTube-Video von Studio Binder (Tonspur Englisch).

Aufgabe 1

In Mein Ende. Dein Anfang. wurden die verschiedenen Brennweiten der Objektive eher unauffällig und ganz im Sinne eines immersiven Erzählens eingesetzt. Mariko Minoguchi und ihr Kameramann Julian Krubasik haben sich hingegen bewusst dafür entschieden, den Film mit sphärischen und anamorphischen Optiken zu realisieren.

  1. Versuche, die Bilder, die mit anamorphen und mit sphärischen Objektiven erstellt wurden, in der Gegenüberstellung zu unterscheiden. Tippe dazu Bilder in der Galerie an und ordne sie auf der Arbeitsfläche entsprechend an. Markiere und kommentiere im unteren Bereich an ein oder zwei geeigneten Bildern einige besonders deutliche visuelle Hinweise, die ausschlaggebend für deine Einordnung sind.
  2. Tipp

Alle Filmbilder aus Mein Anfang. Dein Ende.

Werkzeuge

Aufgabe 2

  1. Schau dir die deine Einordnung der Filmbilder aus Aufgabe 1 aufmerksam an. Kannst du in der Verwendung der unterschiedlichen Optiken in Mein Ende. Dein Anfang. ein erzählerisches Muster erkennen? Erläutere deine Vermutungen im Schreibfeld.

Aufgabe 3

  1. Das Drehen mit zwei verschiedenen Optiken ist teuer. Die Filmemacher*innen müssen das doppelte Equipment finanzieren und die verschiedenen Optiken müssen am Set gewechselt und eingestellt werden (mit der Finanzierung des Films kannst du dich im Modul Die deutsche Filmwirtschaft beschäftigen). Daher ist die Entscheidung von Mariko Minoguchi, ihr Langfilmdebut Mein Ende. Dein Anfang. mit unterschiedlichen Optiken zu realisieren, bemerkenswert. Stelle Vermutungen darüber an, welche Gründe sie zu dieser künstlerischen Entscheidung bewogen haben könnten. Überlege, welche Produktionsbedingungen bei der Umsetzung unterstützend gewirkt haben könnten.

Aufgabe 4

  1. Es gibt eine Szene im Film, die sowohl mit sphärischen als auch mit anamorphen Optiken gefilmt wurde. Hast du eine Vermutung, um welche Szene es sich handelt und warum diese mit beiden Optiken gefilmt wurde?
Tipp
Bildkomposition

9/13

Lichtgestaltung