Welche Ideale des Sozialismus vertritt der Film Karla und inwiefern stehen diese im Widerspruch zum praktizierten Sozialismus in der DDR-Diktatur, sodass der Film verboten wurde?
Erika Richter, Dramaturgin und Filmkritikerin war 1965 am Institut für Filmwissenschaft der Deutschen Hochschule für Filmkunst Potsdam-Babelsberg tätig. Sie erinnert sich:
Das „Aus“ für den Film Karla kam während der ersten Synchrontage. Zunächst wurden nur einzelne Teile herausgeschnitten und schließlich der Endschnitt des Films komplett verboten. Im Antrag für „Ausbuchung“ stand u.a., dass der Film pessimistische und skeptizistische Grundhaltung, verbunden mit einer teilweise falschen Geschichtsbetrachtung enthielte; die Hauptfigur kämpfe unablässig um Ehrlichkeit und Wahrheit und komme damit in Widerspruch zu den Vertretern der Staatsmacht: künstlicher Widerspruch zwischen Ideal und unvollkommener Wirklichkeit, Grundprinzipien des sozialistischen Realismus werden aufgegeben, Position der Parteilichkeit wird verlassen.
Quelle: (vgl. Richter 1994, S. 201f.) https://www.filmportal.de/film/karla_b87f4d040ef240b0a6a9fffe112b5432
Walter Ulbricht, von 1950 bis 1971 Machthaber der DDR, prägte nicht nur den Aufbau und die Entwicklung der DDR zum sozialistischen Staat, sondern auch die Filme, die in der DDR entstanden. Der Bau der Mauer 1961 wurde von der Staatsmacht als positiv für die Filmproduktion interpretiert. Ulbricht: „Jetzt haben wir die Mauer, und daran werden wir jeden zerquetschen, der gegen uns ist“ (Dalichow, 1992). Auf dem VI. Parteitag der SED 1963 wurden die Aufgaben sozialistischer Künstler*innen programmatisch formuliert. Autor*innen und Regisseur*innen sollten den Film stärker als Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und der Vervollkommnung des Menschen im Sinne des sozialistischen Menschenbildes (Menschen mit hoher sozialistischer Moral und Disziplin) nutzen. In der DDR konzentrierten sich Filmemacher*innen und Autor*innen ab 1964 und 1965 nun verstärkt auf den Gegenwartsfilm.
Zu dieser Zeit setzte Klaus Wischnewski, 1960 zum DEFA-Chefdramaturgen berufen, gemeinsam mit Wegbegleitern eine grundlegende Reformierung und Demokratisierung des Studios in Gang und trug dazu bei, die Abhängigkeiten der DEFA von der Hauptverwaltung Film beim Ministerium für Kultur, welche sämtliche Belange von der Filmherstellung bis zur Präsentation kontrollierte und organisierte, zu reduzieren. Zwar gab es auch bei Filmprojekten dieser Zeit zensorische Eingriffe wie den Kampf um Stoffe, ständige Korrekturen am Film, Umschnitte, Nachdreharbeiten und Testvorführungen, oder die staatliche Zulassung wurde zurückgehalten. Aber die Funktionäre der Kulturabteilung und die DEFA-Verantwortlichen vermieden eine direkte Auseinandersetzung und versuchten dadurch Spielräume zugunsten der Regisseure zu schaffen. Diese „Spielräume“ wurden im Bericht des Politbüros an das 11. Plenum des ZK der SED als „dem Sozialismus schädliche Tendenzen und Auffassungen“ gemeldet. Der schöpferische Charakter der Arbeit der Menschen werde negiert, dem Einzelnen stünden Kollektive und Leiter von Parteien und Staat oftmals als kalte und fremde Macht gegenüber.
Als Konsequenz folgte durch das 11. Plenum des Zentralkomitees der SED im Dezember 1965 ein kulturpolitischer „Kahlschlag“, der die DEFA mit zwölf Filmverboten traf. Alle gerade abgedrehten, im Drehprozess befindlichen und vorbereiteten DEFA-Spielfilme wurden noch einmal vom Studio sowie von Mitarbeitern der Hauptverwaltung Film und der SED überprüft. Verboten wurden insgesamt 12 Filme, darunter auch KARLA. Sieben Verantwortliche, vom Minister für Kultur bis zum DEFA-Chefdramaturgen wurden ihren Ämtern enthoben, außerdem mehrere Mitarbeiter am Institut für Filmwissenschaft an der Deutschen Hochschule für Filmkunst fristlos entlassen, da sie der DEFA den theoretischen Unterbau für ihre Filme geliefert hätten (vgl. Schenk 2006, S. 148). Der Vorwurf an die Filme lautete, dass sie die „Schwierigkeiten und Widersprüche der sozialistischen Wirklichkeit zu einseitig und undialektisch widerspiegelten und damit die Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens in der DDR entstellten“ (Baumert/ Herlinghaus, S. 60).
Die verbotenen Filme wurden mit den herausgeschnittenen Bild- und Tonteilen im Staatlichen Filmarchiv der DDR gelagert. Manche Filme wurden teilweise stark beschädigt, verbrannt oder zerstört. Nach dem 7. Oktober 1989 konnten Filmemacher*innen und -wissenschaftler*innen erreichen, dass die Verbote als unrechtmäßig eingestuft wurden und die Filme gemeinsam mit den ehemaligen Regisseuren rekonstruiert oder zu Ende gedreht und zur Aufführung gebracht werden konnten.
Auch Karla wurde erst im Herbst 1989 fertig geschnitten. Nach der Wende 1989 wurden die „Verbotsfilme“ dann der Öffentlichkeit erstmalig oder wieder zugänglich gemacht.
Quelle: vgl. LISUM Berlin Brandenburg 2019, Autorin Petra Anders
Der Regisseur des Films, Herrmann Zschoche im Gespräch (2011) anlässlich der Rekonstruktion und Premiere des Films 1990, 25 Jahre nach dem Verbot:
Gespräch mit Regisseur Herrmann Zschoche 2011, TC 02:36 – 05:39
Gespräch mit Regisseur Herrmann Zschoche 2011, TC 08:24 – 09:33
Aufzeichnung eines Gesprächs mit der Darstellerin von Karla, Jutta Hoffmann, vom 27. April 2016 im Lichtspieltheater Wundervoll, Rostock:
Jutta Hoffmann - Filmgespräch Karla (DDR 1965), ab Minute 21:10 – 23:33
Die an Karla beteiligten Schauspieler*innen und der Kameramann wurden nach dem Verbot des Films in ihrer künstlerischen Entwicklung behindert. Filme, an denen die junge Jutta Hoffmann nach dem Karla-Verbot beteiligt war, durften fortan nur wenig gezeigt werden. Über ihren Kollegen Jürgen Hentsch, den Darsteller des Kaspar, berichtet sie im Gespräch mit Studierenden 2016:
Jutta Hoffmann - Filmgespräch Karla (DDR 1965), ab Minute 02:26 – 03:25
Schauspielerin Jutta Hoffmann “durfte” 1983 aus der DDR ausreisen und lebte und arbeitete von da an in der BRD:
„Dann wollen sie einen entlassen – fristlos. Lauter so blödes Zeug. Bis einem jemand sagt: ‚Wollen Sie nicht nach Salzburg?' – ‚Was soll ich denn in Salzburg? Bürgerlichen Scheißdreck machen? Aber nein, das musst du jetzt machen. Du hast keine Chance in der DDR'. So war das.“
Auch der Kameramann von Karla, Günter Ost, wurde in seinem künstlerischen Schaffen durch das Verbot hart getroffen:
„Danach konnte ich unter dem Eindruck dieser politischen Ereignisse erst einmal eine Weile nicht arbeiten. Bis Ende 1968. […] Es war nicht einfach gegen die Enttäuschung anzukämpfen, dass und warum man da drei Jahre umsonst gearbeitet hatte.“
Quelle: Günter Ost, zitiert in Tobias Ebbrecht-Hartmann: Eine Reise ohne Ankunft – Karla
Der Film Karla sollte zuerst zensiert werden, nicht verboten.
Das Schlussbild des Films. Kaspar hat sich für Karla entschieden und verlässt mit ihr zusammen die Stadt.
Anfang Dezember 1965, noch vor dem 11. Plenum, deutete sich an, dass es mit Karla Probleme geben würde. Die anstehende Synchronisierung wurde zunächst verschoben, und sofort nach dem Plenum begann die Arbeit an einer Änderungskonzeption. Die junge Lehrerin Karla, die von sich wie von anderen kompromisslos Ehrlichkeit verlangt, sollte gebändigt werden, ihre Fehler einsehen, sich fügen. Schnitte, Nachdrehs und Dialogänderungen wurden diskutiert. Manche der vorgeschlagenen Eingriffe finden sich in einer erhalten gebliebenen Zensurfassung. Bereits Karlas furioser erster Auftritt, eine improvisierte Rede über ihr Verständnis des Lehrerberufs, wurde ihr genommen. Schuldirektor Ali Hirte, väterlicher Freund mit mehr Sympathie für Karlas Eskapaden, als es seinem Amt geziemt, wurde zur distanzierten Autoritätsperson. Karlas Liebe zu Kaspar, einem Menschen mit unklarer gesellschaftlicher Haltung, durfte kein Happy End haben. […] Die Zensurfassung ist ein Fragment, das Brüche und fehlende Zusammenhänge in der Handlung aufweist. Eine Fertigstellung blieb dem Film in seiner Zeit verwehrt. Erst 1990 konnte er in seiner ursprünglichen Form rekonstruiert und aufgeführt werden.
Quelle: 66. Internationale Filmfestspiele Berlin https://www.berlinale.de/external/programme/archive/pdf/201602784.pdf